44 Prozent der Fläche Deutschlands werden landwirtschaftlich genutzt. Warum spielt aber die Landwirtschaft in der Wirtschaftsstatistik eine untergeordnete Rolle?
Die Landwirtschaft hat gerade einmal einen Anteil von 1,1 % an der deutschen Bruttowertschöpfung, ist aber zu 100 Prozent Voraussetzung für jede Art von Wertschöpfung in unserer Gesellschaft.
Im Vergleich mit anderen europäischen Metropolen beansprucht die Landwirtschaft in Berlin sehr wenig Fläche. Im Stadtstaat Hamburg kommt die klassische Landwirtschaft auf respektable 25 Prozent. In Berlin sind es mit rund 2.450 ha nur 4,6 % der Landesfläche.
Stellt sich die Frage, wie man diese Landwirtschaft in der Stadt bewertet.
In letzter Zeit häufen sich in Berlin Veranstaltungen, die sich mit der urbanen Landwirtschaft auseinandersetzen. Fachwissenschaftler und Stadtplaner befrachten die „Urbane Landwirtschaft“ mit Aspekten und Tätigkeiten, die bei einer klassischen Sichtweise auf das Aufgabenfeld Landwirtschaft nur schwer zu verstehen sind.
Das beginnt häufig schon mit der Definition des Themas. Beispielsweise findet man im Internet auf seriösen Seiten:
Urbane Landwirtschaft ist die Nutzung von Land in Ballungsräumen oder dessen Peripherie zum Anbau von Lebensmitteln. Die Nutzung erfolgt in der Regel für den Eigenbedarf und ist eng mit dem Sozialleben, den ökologischen und wirtschaftlichen Kreisläufen der Stadt verbunden.
Das aber kann alles Mögliche heißen wie etwa: Kleingärten, Hausgärten, Dachgärten, Gemeinschaftsgärten, Community Supported Agriculture oder Gemüseselbsternte.
Analysiert man aber das Thema vom Inhalt der beiden Begriffe „urban“ und „Landwirtschaft“ her, kann man darunter auch anderes verstehen.
Die klassische Landwirtschaft wird als Wirtschaftsbereich betrachtet, in dem Arbeitskräfte unter Beachtung der ökonomischen und natürlichen Standortfaktoren durch Nutzung des Bodens Erzeugnisse produzieren. Um Landwirtschaft betreiben zu können, muss man aber dazu fachlich qualifiziert sein. Auch müssen die Flächen als landwirtschaftliche Fläche anerkannt sein. Zur Landwirtschaft gehören auch Gartenbau, Binnenfischerei, die Forstwirtschaft und der Landwirtschaftsbau.
Urban (vom Lateinischen urbs = Stadt) bedeutet zur Stadt gehörend, städtisch. Fügt man nun beide Begriffe zusammen, ist urbane Landwirtschaft ein zur Stadt gehörender Wirtschaftsbereich, der von fachlich qualifizierten Menschen durch Nutzung von Boden auf anerkannten landwirtschaftlichen Flächen Erzeugnisse produziert. Alles andere bezeichne ich als kreative Landnutzung.
Natürlich ist auch diese Form von Landwirtschaft angehalten, Menschen zu ernähren. Unter den Bedingungen einer Großstadt ist das aber längst nicht mehr ihre primäre Aufgabe. Angesichts der großen Menschenmenge der Stadt ist sie in eine besondere Nutzung durch Tourismus, Erholung, sportliche Aktivitäten und Naturbeobachtung in deren Alltag einbezogen. Das prägt natürlich und führt automatisch zur Erweiterung ihrer ursprünglichen Inhalte.
Die urbane Landwirtschaft stellt sich zunehmend in den Dienst des Natur- und Umweltschutzes, der Umweltbildung und der Bürgerbeteiligung. Auch ist ihre Rolle bei der Lösung sozialer Probleme nicht zu unterschätzen.
Vom Standpunkt einer umweltbildenden Bio-Landwirtin definiere ich Landwirtschaft nicht am Gewinn des Einzelnen, sondern an ihrem gesellschaftlichen Nutzen und der Akzeptanz. Allein diese Sichtweise erlaubt eine stimmige Verknüpfung aller neuen Aufgaben der urbanen Landwirtschaft.
Folgende Beispiele sollen die inhaltliche Orientierung verdeutlichen:
Natur- und Umweltschutz
Eine Verbindung von Landwirtschaft mit Natur- und Umweltschutz lässt sich am einfachsten durch die Beweidung von Naturschutzgebieten herstellen. In Berlin gibt es eine Vielzahl großer, unter Naturschutz stehender Flächen. Handelt es sich um Wiesen, kann man die Pflege durch jährliche Mahd organisieren oder eben durch extensive Beweidung mit unterschiedlichen Weidetieren. Deren Auswahl hängt von den Standortbedingungen im Schutzgebiet und von den Bedürfnissen der Weidetiere ab.
Abb.1: Schottische Hochlandrinder bei der Landschaftspflege
Im Bezirk Lichtenberg wird das Naturschutzgebiet Falkenberger Rieselfelder seit über 10 Jahren von einer Herde Heckrinder beweidet. Nach einer Probephase hat sich die Eignung der Tiere bestätigt. Seit vielen Jahren halten die Heckrinder die Falkenberger Rieselfelder offen, indem sie verhindern, dass Büsche und Bäume aufwachsen und den Charakter der Landschaft verändern. Durch ihr Fressen strukturieren sie die Fläche und bieten damit optimale Bedingungen für eine große floristische und faunistische Vielfalt. Die Tiere wachsen artgerecht unter natürlichen Gegebenheiten auf. Der Ertrag der Fläche spiegelt sich im Aufwuchs der Rinder wider. Die Herde wird auf der Fläche in einer limitierten Anzahl gehalten, der Überschuss wird entnommen. Zahlreiche Gutachten zu Tiergruppen und Pflanzen haben die erfolgreiche Synergie zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz eindrucksvoll bestätigt.
Umweltbildung
Urbane Landwirtschaft funktioniert nicht im stillen Kämmerlein, sondern benötigt ein hohes Maß an Transparenz und Öffentlichkeit. Bei allen Maßnahmen, die man auf der Fläche durchführt, schauen viele Augen zu. Deshalb besteht ständig die Notwendigkeit und auch das Bedürfnis, sowohl die Arbeit mit den Tieren als auch die Maßnahmen auf den landwirtschaftlichen Flächen, Gehölzarbeiten an den Obstbäumen und anderes zu erläutern und verständlich zu machen. Deshalb ist es wichtig, für die Nutzer der Landschaft, Bewohner der Stadt und Touristen, Angebote zu unterbreiten, um die Akzeptanz von Maßnahmen, Transparenz und einen respektvollen Umgang mit der Natur und Landschaft zu erreichen. Besucher aus allen Stadtbezirken Berlins nutzen die Vorträge über Extensive Beweidung, nehmen an Exkursionen zu den Beweidungsflächen teil oder genießen die Blütenpracht der Streuobstbäume. Derartige Veranstaltungen bieten für Großstädter nachhaltige und vielfältige Naturerlebnisse, ohne dass sie die Stadt verlassen müssen.
Abb.2: Streuobstallee
Bürgerbeteiligung
Neu angelegte Streuobstwiesen auf Stadtbrachen erweisen sich seit einiger Zeit als Musterbeispiel für Bürgerbeteiligung bei einer Facette der urbanen Landwirtschaft. Für eine kostengünstige und dennoch attraktive Gestaltung von Abrissflächen ehemaliger Kitas, Schulen und sonstiger Gebäude fehlt es häufig an praktikablen Ideen. Diese Art von kleinflächiger Landwirtschaft bietet viele Vorteile: Zum einen sind Obstbäume immer attraktiv, eine Augenweide von der Blüte bis zur Frucht, zum anderen verbinden sie Naturschutz und Nutzen so wirksam, dass sich Menschen gern für sie verantwortlich fühlen. Zahlreiche Baumpatenschaften und Helfer bei Pflege und Ernte belegen das eindrucksvoll. Auch befördern Streuobstwiesen unter den Nachbarn in der Stadt engen Kontakt. Somit erfüllen sie auch soziale Aufgaben.
Eine weitere Form naturnaher Bürgerbeteiligung finden wir bei den sogenannten Selbst-Erntegärten. Gärtner und Landwirte bauen auf ihren Flächen Beerenobst und Gemüse an, das von den Städtern gegen einen geringen Obolus geerntet werden kann. So bringen selbstgepflückte Erdbeeren, Tomaten, Gurken, Kartoffeln oder Kürbisse den Berlinerinnen und Berliner auf genussvolle Weise in Erinnerung, dass jede dieser Gaben der Natur ihre Saison hat und nur dann ihren besonderen Geschmack entwickelt.
Unter Berücksichtigung aller hier genannten Aspekte haben die klassischen Aufgaben der Landwirtschaft keineswegs an Bedeutung verloren. Ihr Wert für die Versorgung und Bildung der Stadtbevölkerung hat hingegen durch die Themen Natur- und Umweltschutz, Umweltbildung und Bürgerbeteiligung enorm an Inhalt gewonnen. Auch für den Landwirt, der sich nunmehr urbaner Landwirt nennen darf, bedeuten diese neuen Aufgaben zweifellos einen erheblichen Wissenszuwachs und letztlich ein völlig neues Kompetenzniveau.
Beate Kitzmann