Man schüttelt den Kopf, man ärgert sich über die Menschen im Allgemeinen, eine leichte Wut kriecht durch den Körper, man schimpft, man fühlt diesen Weltschmerz, der sich schwer auf das Gemüt legt und einem schlagartig die Laune verdirbt. Völlig klar, das ist kein Zustand, das geht so nicht! Mein Aha-Erlebnis hatte ich während einer Wanderung um den Gehrensee. Mit einer Freundin stand ich an einem sonnigen Tag auf der hölzernen Aussichtsplattform, sah nach unten und wir erblickten diverse Dinge, die man gemeinhin als Müll bezeichnen würde. Unter anderem das Vorderteil eines alten Besens. Die Borsten waren gleichmäßig und lückenlos angeordnet, buschig und schwarz wie Ebenholz. Das glatte Holz, das die Borsten hielt, glänzte in der Sonne. Das Stück Besenstiel, das noch in der Fassung steckte, und dessen Ende unregelmäßig abgesplittert war, hatte das gleiche warme, glänzende Haselnussbraun. Meine Gedanken gingen auf die Reise und ich begann mich zu fragen, wie genau dieses besondere Stück an diese Stelle gekommen war, welche Geschichte sich dahinter verbirgt und ob sich der ehemalige Besitzer wohl freiwillig davon getrennt hat.
Das gleiche passierte mir, als ich einige Tage später eine Fair-Trade-Baumwolltragetasche mitten auf der Straße liegen sah. Unweigerlich stellte ich mir vor, wie der Verlierende eilig mit seinem Einkauf über die Straße rennt, weil die Familie ausgehungert und erwartungsvoll zu Hause sitzt und auf ihn wartet. Er merkt, dass ihm der Beutel aus den Fingern rutscht, sich verselbstständigt, er kann den Einkauf mit beiden Händen im letzten Moment gerade noch festhalten, aber die Tasche fällt zu Boden. Schmutzig wie sie jetzt ist, kann er seine frisch erworbenen Lebensmittel natürlich nicht mehr hinein tun, aber so hat er auch keine Hand frei, um den Beutel aufzuheben.
Was mag wohl passiert sein, bevor im Volkspark Prenzlauer Berg die Zeitschrift mit Hochglanzbildern von wunderschönen, warm lächelnden Frauen zerrissen zwischen den Sträuchern auf dem Boden landete? Sehr gut kann ich mir eine Dame mittleren Alters vorstellen, die sich die Lektüre wegen der interessanten und aufschlussreichen Texte über Prominente, hilfreichen Haushaltstipps und Vorhersagen über den Verlauf ihrer persönlichen Woche gekauft hat und die Illustrierte im Park erwartungsfroh aufschlägt. Da muss sie nun lesen, Spinat habe gar nicht so einen hohen Eisengehalt wie bisher angenommen. Dabei hat sie sich jahrelang gequält, um sich an den Geschmack des unansehnlichen Gemüses, das ihr schon als Kind beim Essen jedes Mal einen Würgereiz bescherte, aus Vernunft und Gesundheitsbewusstsein zu gewöhnen. Auch diese Zeitschrift hatte unzählige dunkelgrüne Rezeptideen in allen Variationen veröffentlicht und sie damit unter einen beinahe unerträglichen Druck gesetzt.
An dieser Stelle möchte ich Sie, liebe Leser, nun anregen, nicht so achtlos an den vielen interessanten Stücken vorbeizugehen, ohne darüber nachzudenken, was denn für eine Geschichte oder welches Schicksal sich hinter dem Gegenstand verbergen. Wir sollten uns wirklich nicht so schnell eine Meinung über die Leute bilden, die sich vielleicht schweren Herzens von einem (Lieblings-) Stück getrennt haben, trennen mussten oder sogar getrennt wurden. Damit Sie in freier Natur nicht völlig überfordert sind oder Sie gar die Emotionen übermannen, folgen hier einige Übungsbeispiele, die zu Hause in entspannter Atmosphäre als Einstieg in die neue Technik des Sichhineinversetzens in Andere dienen sollen:
Für Einsteiger:
Sofa in einer Grünanlage zwischen Hochhäusern
ein Häufchen Zigarettenkippen auf einem Waldweg
ein Autoreifen neben einem Parkplatz
Für Fortgeschrittene:
eine Stehlampe am Feldrand
ein Schlauchboot ohne Luft im Park
Für Nervenstarke:
ein Vorhängeschloss im Gebüsch
Bei allem Verständnis, eines ärgert mich dann doch. Wenn man zuweilen, wie ich, mit offenen Augen im Wald unterwegs ist und dann von weitem etwas leuchten sieht, was man so zuvor im Wald noch nicht gesehen hat. Man glaubt an einen spektakulären Fund, einen noch unentdeckten Pilz, ein seltenes Tier oder etwas anderes Ausgefallenes. Man pirscht sich langsam, fast lautlos, den Atem anhaltend heran. Man sieht die Schlagzeilen bereits im Kopf vor sich, man überlegt sich, welchen Journalisten man ein Interview geben würde und welchen nicht, um sich endlich einmal für die reißerische Berichterstattung einiger Blätter zu rächen. Schwieriger ist schon die Frage, was man anziehen würde, wenn man zu einer Talkshow eingeladen werden würde. Und dann wäre da noch die Sache mit der eventuellen finanziellen Zuwendung. Ein Teil des Geldes müsste natürlich einem Projekt zum Umwelt- und Naturschutz zugutekommen. Aber komplett? Ach, das könnte ich meiner Tochter nicht antun, die sich schon so lange ein eigenes Pferd wünscht. Wie unendlich groß ist dann die Enttäuschung, wenn sich der vermeintliche Schatz als eine verbeulte Konservendose, ein Herrenschuh oder eine Würstchenverpackung entpuppt. Diese rücksichtslosen, ignoranten Naturschänder!
Ach ja, etwas Mitleid habe ich mit der Hexe, die nun ohne Besen umherirrt. Haben Sie sie gesehen?